Erinnerung
Der Abend kam. Die Schatten fielen.
Rings an den Fenstern ward es hell.
Die Kleine, müd vom Lauf und Spielen,
lag mir am Fuß im Bärenfell.
Die nackten Beinchen hochgezogen,
hielt sie in kleiner Hand den Stift
und füllte meinen schönsten Bogen
mit Häkchen einer Runenschrift.
Rings war's so still, wie zum Gebete;
der ems'ge Stift nur raschelt leis...
Es schrieb kein Dichter und Prophete
sein Weisheitsbuch mit größrem Fleiß!
Da plötzlich schmeichelnd mit den lieben
Äuglein mein Kindchen zu mir schlich:
"Weißt du, Papa, was ich geschrieben?"
"Ein Briefchen?" - "Ja." - "An wen?" - "An dich!"
"Goldkind, an mich? Was steht darinnen?
Der Abend macht die Augen trüb..."
Und sie, nach lächelndem Besinnen:...
"Daß ich dich lieb hab', furchtbar lieb!"
Es floß ein letzter Sonnenschimmer
ums Köpfchen ihr mit goldnem Hauch -
"Das schreibst du mir im selben Zimmer?
Sag's mir doch laut, dann weiß ich's auch."
Da sah mich an das kleine Wesen
und reicht' das Blatt mir lächelnd hin:
"Behalt's, Papa, dann kannst du's lesen,
wenn ich mal nicht im Zimmer bin..."
.....O bittres Wort aus lieben Zeiten,
das du der Sehnsucht Flügel leihst!
Es schlug die Stunde längst zum Scheiden,
und dieses Zimmer ist verwaist.
Von deinem Jauchzen, deinem Lieben,
von all dem, was sie nie vergißt,
ist nur ein Blatt zurückgeblieben,
das wirr und kraus bekritzelt ist...
(Rudolf Presber)
*
Die Strafe
"Bitte laß mich noch ein paar Stunden leben",
bat ein junger Mann den Tod,
dem er unverhofft ins Gesicht sehen mußte.
Ich halte es nicht für das größte Glück,
einen Menschen ganz enträtselt zu haben;
ein größeres noch ist, bei dem,
den wir lieben, immer neue Tiefen zu
entdecken, die uns immer mehr die
Unergründlichkeit seiner Natur nach ihrer
göttlichen Seite hin offenbaren.
(Fjodor Michailowitsch Dostojewski)
BRIEF EINES SCHWARZEN JUNGEN
Wenn ich geboren werde, bin ich schwarz.
Wenn ich grösser werde, bin ich schwarz.
Wenn mir schlecht ist, bin ich schwarz.
Wenn ich an die Sonne gehe, bin ich schwarz.
Wenn ich's kalt habe, bin ich schwarz.
Wenn ich sterbe, bin ich schwarz.Aber du !
Wenn du geboren wirst, bist du rosa.
Wenn du grösser wirst, bist du weiss.
Wenn dir schlecht ist, bist du grün.
Wenn du an die Sonne gehst, bis du rot.
Wenn du's kalt hast, bist du blau.
Wenn du stirbst, bist du bleich.
Und du hast die Nerven, mich einen Farbigen zu nennen !
Ich hänge meine Sorgen
an die Sichel des Mondes
stemme mich
gegen den Wind der Angst
laufe um die Wette
mit den Wellen der Zeit
locke die Sonne
nach dem Wolkenbruch
und gehe meinen Weg
über die Farben des Regenbogens
"Warum sollte ich?", fragte der Tod.
"Damit ich einem bestimmten Menschen noch zeigen kann,
wie sehr ich ihn liebe, bevor ich sterbe."
"Ich bin die Strafe dafür, daß du es nicht eher getan hast",
sagte der Tod unerbittlich
und nahm dem Mann das Leben.
SPUREN IM SAND
Eines Nachts hatte ich einen Traum.
Ich ging mit dem Herrn den Strand entlang, und am Himmel zogen Szenen aus meinem Leben vorbei.
In jeder Szene fielen mir zwei Fußspuren im Sand auf, und zu meinem Erstaunen bemerkte ich, daß auf meinem Lebensweg des öfteren nur eine Fußspur zu sehen war. Und ich erkannte, daß diese gerade die bedrückendsten und schlimmsten Abschnitte meines Lebens waren.
Also fragte ich Gott: "Herr, du hast einmal gesagt, wenn ich mich entschlossen habe, dir zu folgen, würdest du den ganzen Weg mit mir gehen. Aber ich muß feststellen, daß in den schwierigsten Zeiten meines Lebens nur eine Fußspur zu sehen ist. Ich verstehe nicht, warum du von meiner Seite gewichen bist, als ich dich am dringendsten gebraucht habe."
Gott sprach: "Mein liebes Kind, ich habe dich in schwierigen Zeiten nie alleine gelassen. Dort wo du nur eine Fußspur siehst, habe ich dich getragen."
(Margret Fishback Powers)
Die Zahl derer, die wir lieben, lässt sich nicht beliebig vergrößern. In demselben Grade, in dem wir einen neuen Menschen in unser Herz aufnehmen, wird unmerklich ein anderer daraus verdrängt.
Zeit heilt manche Wunden nicht,
doch Zeit heilt Verwundbarkeit.
(Armin Hamaekers)
"Es gibt eigentlich nur zwei Heimsuchungen im Leben:
Das nicht zu bekommen, was man sich unbedingt wünscht.
Und das zu bekommen, was man sich wünscht."
(Antony de Mello)
GEHEIMNIS
Wir seufzen nicht, das Aug' ist trocken,
Wir lächeln oft, wir lachen gar!
In keinem Blick, in keiner Miene,
Wird das Geheimnis offenbar.Mit seinen stummen Qualen hegt es
In unsrer Seele blut'gem Grund;
Wird es auch laut im wilden Herzen,
Krampfhaft verschlossen bleibt der Mund.Frag du den Säugling in der Wiege,
Frag du die Toten in dem Grab,
Vielleicht daß diese dir entdecken,
Was ich dir stets verschwiegen habHeinrich Heine (1797-1856)
Musik: Schubert-Serenade