In meinem Mutterland gab es keine Weihnachten. Die Religion war abgeschafft, getauscht gegen ein anderes Modell von Friedfertigkeit (das genau so wenig funktionierte). Aber weil die Menschen ihre Rituale brauchen und im Dunkeln Hoffnung auf Licht, hat es trotzdem ein glitzerndes Winterfest geben dürfen.

Ein anderer Tag wurde bestimmt, der Neujahrstag, aber die Symbole blieben die gleichen. Baum und Kind wurden geschmückt (vier Meter Taftband in feinem Mädchenhaar), und weil die Welt jetzt eine kollektive war, stellte man den Baum in den Kulturpalast und führte das Kind dort hin.

Musik, Kreistanz, Lichterglanz. Von Gemälden herab milde lächelnde Frostväterchen, Lenin-Stalin. Ein lebendiges Väterchen Frost mit Bart und Bassstimme, in Begleitung seines flockig-weißen Schneemädchens, teilte Geschenke aus.
Wangenwärmendes Kinderglück.

Schnitt.
Übersiedlung nach Vaterland.

Vom flüsternd-raschelnden Geschehen hinter verschlossener Wohnzimmertür lenkt der Vater unsere Aufmerksamkeit weg: "Das Christkind kommt hier mit dem Taxi." Wir drücken die Nasen ans Küchenfenster. Wie viele Taxis doch am Heiligen Abend in der Krottenbachstraße unterwegs sind!

Glöckchen.
Kurzes Erstarren.
Losrennen.
Teppich rutscht weg.
Türe auf.
Leuchtende Augen, tiefe Freude vor dem Privat-Baum.

Das christliche Weihnachtsglück hat sich ganz genau so angefühlt wie das sozialistische.


Weihnachten Wien 1960

Text: L.A., die etwas Ältere (Autorin bei Ö1)

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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